Chalandon, Sori – Rückkehr nach Killybegs

Informationen zum Buch:
erschienen am 01. Oktober 2013
Verlag dtv
316 Seiten
ISBN 978-3-423-14828-3
übersetzt von Brigitte Große

Klappentext / Zusammenfassung:
In diesem in Frankreich vielfach ausgezeichneten Roman nähert sich Sorj Chalandon einem besonders aufwühlenden Ereignis seiner eigenen Biographie. Frei entlang der Lebensgeschichte eines engen Freundes erzählt er von einem IRA-Kämpfer, der zum Spion des britischen Geheimdienstes wird. Und entfaltet vor unseren Augen mit großer Wucht und in einfacher Sprache eine Tragödie. „Rückkehr nach Killybegs“ ist eine unerbittliche und aufwühlende Parabel über Gewalt, Krieg und Verrat.

Meine Meinung:
Liebe Leserin, lieber Leser,

ein Franzose, der über den nordirischen Bürgerkrieg schreibt? Das kann nix vernünftiges sein. Zumindest dachte ich das, als ich den Klappentext las. Denn ich muss gestehen: Ich kaufte das Buch wegen des Titels und dachte damals, das sei so eine seichte „Frau kommt in das Haus ihrer irischen Großmutter, um ihr Leben neu zu ordnen, verliebt sich in den Nachbarn und bleibt“-Geschichte. Tja, falsch gedacht, Smoky! Tatsächlich ist das Buch ganz anders: weder seicht noch schnulzig oder vorhersehbar. Ganz im Gegenteil: Ein fesselndes Buch über ein wichtiges Thema der irischen Geschichte.

Als alter Mann blickt Tyrone Meehan auf sein Leben zurück. Er ist in das Dorf seines Vaters, die Hütte seiner Kindheit zurückgekehrt und schreibt seine Erinnerungen auf – nicht als Erklärung oder Entschuldigung, sondern weil nur er weiß, warum er Jahrzehnte zuvor eine schwerwiegende, von außen nicht nachvollziehbare Entscheidung getroffen hat.

Das Ergebnis Tyrones Rückschau ist ein ergreifendes Buch, das mich mehr als einmal atemlos zurückgelassen hat, wenn ich eine Lesepause einlegen musste. Einfach erzählt, ohne viel Aktion und/oder detaillierter Beschreibungen von Kampfhandlungen, auf das wesentliche reduziert, ist „Rückkehr nach Killybegs“ ein Roman, der die Gefühle der Iren in Nordirland zwischen den 1930ern und den 1980er Jahren sehr gut transportiert: Frust, Angst, Wut, Hilflosigkeit, Verzweiflung, Gottvertrauen, Hass und Nationalstolz, alles gepaart mit einem unbedingten Überlebenswillen.

Mein Fazit: Wer sich für den irischen Bürgerkrieg, die „Troubles“, interessiert, sollte dieses Buch lesen. Es ist gut recherchiert, bringt die wichtigsten Ereignisse zur Sprache, ohne sie unnötig lang auszuführen, und vermittelt, wie ich finde, ein emotional sehr tiefes Bild der damaligen Zeit ohne pathetisch oder grausam zu sein. Von mir eine klare Leseempfehlung.

Lieben Gruß,

Lux, Lana – Kukolka

Informationen zum Buch:
2019 erschienen
Aufbau Verlag
375 Seiten
ISBN 978-3-7466-3539-2

Klappentext / Zusammenfassung:
Ukraine, 90er Jahre. Große Party der Freiheit. Manche tanzen und fressen oben auf dem Trümmerhaufen der Sowjetunion, andere versuchen noch, ihn zu erklimmen. Auch die siebenjährige Samira, die mit ein paar anderen Kids in einem Haus lebt, wo es keinen Strom, kein warmes Wasser und kein Klo gibt. Aber es geht ihr bestens. Außerdem hat sie einen Job, und den macht sie gut: beteln. Niemand kann diesem schönen Kind widerstehen, auch Rocky nicht. Er nennt sie Kukolka, Püppchen. Alles scheint perfekt zu sein. Doch Samira hält an ihrem Traum von Deutschlad fest. Und ihr Traum wird in Erfüllung gehen, komme, was wolle …

Meine Meinung:
Liebe Leserin, lieber Leser,

ich kann mich nicht erinnern, jemals ein Buch gelesen zu haben, das so weit vom Klappentext entfernt ist wie dieses. Als ich eben jenen gelesen habe, dachte ich: „Naja. Aufbruch in ein neues Leben. Leichte Kost, aber sicher recht amüsant.“ Doch was soll ich sagen? Falsch gedacht:

Samira ist eine Waise und lebt in einem Waisenhaus in Dnepropetrovsk, wo sehr strenge Regeln herrschen. Den Kindern wird alles vorgeschrieben, bis hin zu der „korrekten“ Einschlafposition – und wehe, man bewegt sich nachts. Die Bestrafungen sind schon bei kleinen „Vergehen“ extrem streng. Die Kinder werden dort aufbewahrt, bis sie entweder adoptiert werden oder zu alt für’s Waisenhaus sind. Da Samira nichts anderes kennt, hat sie sich damit abgefunden – bis ihre Freundin adoptiert wird und nach Deutschland zieht. Ab nun hat Samira ein großes Ziel: zu ihrer Freundin gelangen und in Deutschland leben.

Im Alter von 7 Jahren läuft Samira aus dem Waisenhaus weg und beginnt ihre Reise nach Deutschland. Doch schon am Hauptbahnhof endet diese: Mittellos und naiv wie sie ist, wird sie von Rocky aufgelesen. Nun lebt sie mehrere Jahre bei ihm und seinen anderen „Schützlingen“: Kinder wie sie, die von Rocky auf die Straßen geschickt werden: betteln, Taschendiebstahl, Musik machen … und der „Verdienst“ muss abends abgegeben werden. Die Kinder sind nach wie vor bitterarm, leben in einem alten Haus ohne Strom, Heizung, warmen Wasser – doch Samira fühlt sich frei, was sie im Vergleich zum Waisenhaus wohl auch ist. Doch je älter Samira wird, desto mehr will Rocky von ihr …

Ich möchte nicht zuviel verraten, nur soviel: Bis Samira ihr Ziel „Freundin in Deutschland wiedertreffen“ erreicht, vergehen Jahre und Samira muss unglaublich viel durchmachen. Sie fällt auf einen Menschenfänger rein und endet in einem Berliner Puff, wo sie bis zu 30 Männer am Tag „bedienen“ muss. Sie wird wie ein Stück Fleisch verkauft. Ihren Lebenslauf zu lesen und dabei zu wissen, dass es tagtäglich tausenden Mädchen und Frauen wie ihr ergeht, ist nahezu unerträglich. Und das Wissen um solche Schicksale macht das Ende des Buches unglaubwürdig: Durch viel Glück kommt Samira aus dem Sumpf, in dem sie zu ertrinken droht, raus, wird gerettet und sieht auch tatsächlich ihre Kindheitsfreundin wieder.

Lana Lux, die Autorin, hat in diesem Buch viele Themen angesprochen und aufgezeigt, wohin es führen kann: Ein Mädchen aus Rockys Haus war als Kind mehrfach sexuell missbraucht worden und ist daran zerbrochen. Ein für sie glücklicher, für Samira furchtbarer Zufall erfüllt ihr ihren sehnlichsten Wunsch: zu sterben. Ein Junge wurde misshandelt und seine Augen mit Säure verätzt. Ein anderes Mädchen stirbt nach einem erzwungenen „Besuch“ einer Engelmacherin. Kinder, die anfangen, Klebstoff zu schnüffeln und Drogen zu nehmen. Und natürlich Samiras Lebenslauf, von der Kälte und extremen Strenge im Waisenhaus über die Armut und den Druck bei Rocky bis hin zu ihrer „großen Liebe“, die sich als Menschenfänger herausstellt und sie zur Prostitution bringt – Lana Lux spricht es offen und schonungslos an. Und vielleicht deshalb scheint mir das Ende nicht so recht zu passen, denn nur ein verschwindend kleiner Prozentsatz der zwangsprostituierten Frauen und Mädchen können ihrem Elend entkommen. Auf mich wirkt es wie ein modernes Märchen: Alles wird erträglicher, wenn es ein gutes Ende hat. Leider ist das Leben kein Märchen.

Trotz allem spreche ich für „Kukolka“ eine klare Leseempfehlung aus: Das Buch ist hart und schonungslos, aber genau deshalb lesenswert. Mich hat es in meiner Wohlstandsblase aufgerüttelt und mir bewußt gemacht, wie gut es mir geht. Es hat mich dankbar gemacht, und ein wenig demütig.

Lieben Gruß,
Deine