Informationen zum Buch:
2019 erschienen
Aufbau Verlag
375 Seiten
ISBN 978-3-7466-3539-2
Klappentext / Zusammenfassung:
Ukraine, 90er Jahre. Große Party der Freiheit. Manche tanzen und fressen oben auf dem Trümmerhaufen der Sowjetunion, andere versuchen noch, ihn zu erklimmen. Auch die siebenjährige Samira, die mit ein paar anderen Kids in einem Haus lebt, wo es keinen Strom, kein warmes Wasser und kein Klo gibt. Aber es geht ihr bestens. Außerdem hat sie einen Job, und den macht sie gut: beteln. Niemand kann diesem schönen Kind widerstehen, auch Rocky nicht. Er nennt sie Kukolka, Püppchen. Alles scheint perfekt zu sein. Doch Samira hält an ihrem Traum von Deutschlad fest. Und ihr Traum wird in Erfüllung gehen, komme, was wolle …
Meine Meinung:
Liebe Leserin, lieber Leser,
ich kann mich nicht erinnern, jemals ein Buch gelesen zu haben, das so weit vom Klappentext entfernt ist wie dieses. Als ich eben jenen gelesen habe, dachte ich: „Naja. Aufbruch in ein neues Leben. Leichte Kost, aber sicher recht amüsant.“ Doch was soll ich sagen? Falsch gedacht:
Samira ist eine Waise und lebt in einem Waisenhaus in Dnepropetrovsk, wo sehr strenge Regeln herrschen. Den Kindern wird alles vorgeschrieben, bis hin zu der „korrekten“ Einschlafposition – und wehe, man bewegt sich nachts. Die Bestrafungen sind schon bei kleinen „Vergehen“ extrem streng. Die Kinder werden dort aufbewahrt, bis sie entweder adoptiert werden oder zu alt für’s Waisenhaus sind. Da Samira nichts anderes kennt, hat sie sich damit abgefunden – bis ihre Freundin adoptiert wird und nach Deutschland zieht. Ab nun hat Samira ein großes Ziel: zu ihrer Freundin gelangen und in Deutschland leben.
Im Alter von 7 Jahren läuft Samira aus dem Waisenhaus weg und beginnt ihre Reise nach Deutschland. Doch schon am Hauptbahnhof endet diese: Mittellos und naiv wie sie ist, wird sie von Rocky aufgelesen. Nun lebt sie mehrere Jahre bei ihm und seinen anderen „Schützlingen“: Kinder wie sie, die von Rocky auf die Straßen geschickt werden: betteln, Taschendiebstahl, Musik machen … und der „Verdienst“ muss abends abgegeben werden. Die Kinder sind nach wie vor bitterarm, leben in einem alten Haus ohne Strom, Heizung, warmen Wasser – doch Samira fühlt sich frei, was sie im Vergleich zum Waisenhaus wohl auch ist. Doch je älter Samira wird, desto mehr will Rocky von ihr …
Ich möchte nicht zuviel verraten, nur soviel: Bis Samira ihr Ziel „Freundin in Deutschland wiedertreffen“ erreicht, vergehen Jahre und Samira muss unglaublich viel durchmachen. Sie fällt auf einen Menschenfänger rein und endet in einem Berliner Puff, wo sie bis zu 30 Männer am Tag „bedienen“ muss. Sie wird wie ein Stück Fleisch verkauft. Ihren Lebenslauf zu lesen und dabei zu wissen, dass es tagtäglich tausenden Mädchen und Frauen wie ihr ergeht, ist nahezu unerträglich. Und das Wissen um solche Schicksale macht das Ende des Buches unglaubwürdig: Durch viel Glück kommt Samira aus dem Sumpf, in dem sie zu ertrinken droht, raus, wird gerettet und sieht auch tatsächlich ihre Kindheitsfreundin wieder.
Lana Lux, die Autorin, hat in diesem Buch viele Themen angesprochen und aufgezeigt, wohin es führen kann: Ein Mädchen aus Rockys Haus war als Kind mehrfach sexuell missbraucht worden und ist daran zerbrochen. Ein für sie glücklicher, für Samira furchtbarer Zufall erfüllt ihr ihren sehnlichsten Wunsch: zu sterben. Ein Junge wurde misshandelt und seine Augen mit Säure verätzt. Ein anderes Mädchen stirbt nach einem erzwungenen „Besuch“ einer Engelmacherin. Kinder, die anfangen, Klebstoff zu schnüffeln und Drogen zu nehmen. Und natürlich Samiras Lebenslauf, von der Kälte und extremen Strenge im Waisenhaus über die Armut und den Druck bei Rocky bis hin zu ihrer „großen Liebe“, die sich als Menschenfänger herausstellt und sie zur Prostitution bringt – Lana Lux spricht es offen und schonungslos an. Und vielleicht deshalb scheint mir das Ende nicht so recht zu passen, denn nur ein verschwindend kleiner Prozentsatz der zwangsprostituierten Frauen und Mädchen können ihrem Elend entkommen. Auf mich wirkt es wie ein modernes Märchen: Alles wird erträglicher, wenn es ein gutes Ende hat. Leider ist das Leben kein Märchen.
Trotz allem spreche ich für „Kukolka“ eine klare Leseempfehlung aus: Das Buch ist hart und schonungslos, aber genau deshalb lesenswert. Mich hat es in meiner Wohlstandsblase aufgerüttelt und mir bewußt gemacht, wie gut es mir geht. Es hat mich dankbar gemacht, und ein wenig demütig.
Lieben Gruß,
Deine