Seck, Yandé – Weisse Wolken

Informationen zum Buch:
erschienen am 08. Februar 2024
Verlag Kiepenheuer & Witsch
352 Seiten
ISBN 978-3-462-31160-0

Klappentext / Zusammenfassung:
Zwei Schwestern: Die eine arbeitet sich an sämtlichem Unrecht unserer Gegenwart ab, die andere am bürgerlichen Familienideal; für die eine ist ihr Schwarzsein eine politische Kategorie, für die andere ihr Muttersein. Klug, erhellend und mit hintergründigem Witz erzählt Yandé Seck in ihrem Debütroman von den Ambivalenzen, die wir im Kleinen wie im Großen aushalten müssen.

Dieo lebt mit ihrem Mann Simon und drei Söhnen in einer schönen Altbauwohnung im Frankfurter Nordend. Sie leidet unter den unerfüllbaren Ansprüchen der Gesellschaft an sie als Mutter, vor allem aber ist es die ständige Kritik ihrer jüngeren Schwester Zazie an allem und jedem, die an ihren Nerven zerrt. Auch Simon, ein mittelalter weißer Mann und Angestellter in einem Finanz-Start-up, gerät immer wieder ins Visier seiner Schwägerin, die zunehmend an der rassistischen und sexistischen Gesellschaft verzweifelt.

Als der Vater der Schwestern, ein eigensinniger Nietzschefan, der vor mehr als vierzig Jahren aus dem Senegal nach Deutschland kam, unerwartet stirbt, gerät das mühsam kalibrierte Familiengefüge aus dem Gleichgewicht. Für die Beerdigung reisen die Schwestern in das Land ihres Vaters. Der Abschied wird für die beiden zu einem Neuanfang – in vielerlei Hinsicht.

Meine Meinung:
Liebe Leserin, lieber Leser,

Yandé Seck hat uns einen Familienroman beschehrt, der zum Nachdenken anregt. Die beiden Schwestern Zazie und Dieo könnten kaum unterschiedlicher sein: Zazie arbeitet im Juz, ist Single, hat Bindungsängste und hadert als Tochter eines Senegalesen mit der Gesellschaft, die sie nicht so akzeptiert, wie sie ist: weiblich, stark, farbig. Dieo ist dreifache Mutter, mit einem Weißen verheiratet, will alles richtig machen und reibt sich daran auf. Erschwerend kommt hinzu, dass die Eltern der Schwestern geschieden sind und die Mutter sich, meiner Meinung nach, ziemlich übergriffig verhält und an ihrem Ex-Mann kein gutes Haar lässt. Der Vater steuert aber auch nur halbherzig gegen und ist froh, wenn er seine Ruhe hat und lesen kann.

Soweit, sogut.

Ich mochte beide Schwestern. Dieo war mir nahe, weil sie mit ihrem Perfektionismus in einen Teufelskreis geraten ist, aus dem sie so leicht nicht mehr rauskommt. Kommt mir bekannt vor, doch das ist ein anderes Thema und gehört nicht hierher. Sie möchte es allen recht machen und ist beeinflussbar, insbesondere von ihrer Mutter. Wie sonst könnte man es erklären, dass ihre Mutter ihr bislang immer ausgeredet hat, die Familie ihres Vaters im Senegal zu besuchen? Sogar nach dem Tod des Vaters will sie ihrer Tochter diese für Dieo wichtige Reise ausreden. Zazie dagegen ist erfüllt von Wut: Wut auf den allgegenwärtigen Rassismus, Wut auf den ständig auftauchenden Rassismus, Wut auf die Wut … Sie ist die erste in ihrer Familie und in ihrem Freundeskreis, die ein Studium abgeschlossen hat. Alle feiern mit ihr, und doch ist da immer wieder die Rede vom „ba-bösen“ Abschluss. Ist der Ausdruck wirklich nur scherzhaft gemeint? Gleichzeitig ist sie unsicher: Ist es wirklich okay, mit einem weißen Mann zu schlafen? Was, wenn es was ernstes wird? Kann das überhaupt gut gehen oder ist sie für ihn nur eine Trophäe?

Unterm Strich hat die Reise der beiden in den Senegal und die Zeit, die sie mit der Familie ihres Vaters verbringen, auf beide eine reinigende Wirkung. Als sie nach der Trauerfeier zurückkommen, blicken sie beide mit anderen Augen auf die Welt und kommen mit sich selbst ins Reine. Und das finde ich schön und ich freue mich für die (fiktiven) Schwestern.

Deine

Graver, Elizabeth – Kantika

Informationen zum Buch:
erschienen am 20. Februar 2024
mare Verlag
368 Seiten
ISBN 978-3-86648-710-9
übersetzt von Juliane Zaubitzer

Klappentext / Zusammenfassung:
Als sich in den 1920ern die Stimmung in Europa verdunkelt, beginnt die Odyssee Rebecca Cohens von Istanbul über Barcelona und Havanna bis nach New York. Unterwegs wird sie zur Ehefrau und Witwe, muss ihre Eltern zurücklassen, um ihren Kindern eine Zukunft zu bieten, und ihr Schicksal einem Mann anvertrauen, den sie nur aus Briefen kennt. Doch überallhin trägt sie ihre Erinnerung und ihre Lieder und baut sich daraus gegen alle Widerstände eine neue Heimat.

Meine Meinung:
Liebe Leserin, lieber Leser,

die Autorin schreibt in ihrem Nachwort folgendes:
„Obwohl Kantika ein Roman ist, habe ich mit der Grenze zwischen Fakt und Fiktion gespielt und mich auf die Erfahrungen realer Personen gestützt, vor allem meiner Großmutter mütterlicherseits, Rebecca Baruch Levy, geborene Cohen (1902-1991). Für diverse Protagonisten habe ich echte Namen verwendet, so auch Rebeccas, während deren Innenleben meiner Fantasie entspringt. Ich habe historische Ereignisse, Familiengeschichten und Fotografrien eingeflochten, aber auch Fakten geänder und bei jeder Gelegenheit frei erfunden.“ Im weiteren Verlauf schreibt sie, dass sie sowohl ihre Großmutter als auch ihre Onkel und Tanten, soweit sie noch am Leben waren, interviewt hat und dass die Mitschnitte dieser Gespräche die Grundlage ihres Romans sind. Und ganz ehrlich? Sie hat einen phantastischen Roman geschrieben!

Ich habe an mehreren Stellen gelesen, Elizabeth Graver habe mit ihrem Roman ihrer Großmutter ein Denkmal gesetzt. Diese Stimmen haben recht, schreibt sie doch auf eine Art und Weise, die den Leser (in diesem Fall: mich) sehr schnell in die Geschichte zieht. Ich wollte unbedingt wissen, wie es mit Rebecca weitergeht. Was ist mit ihrer besten Freundin aus Kindertagen? Wie geht es ihrer Familie? Wie geht sie selbst mit Schicksalsschlägen um? Welches Verhältnis hat sie zu ihren Eltern und Geschwistern? Wo fühlt sie sich heimisch? Was ist los mit ihrem ersten Ehemann? Im gesamten Roman ist Rebecca die zentrale Figur. Es gibt „nur“ einen Erzählstrang, und das ist Rebeccas Leben. So erfahren wir mit ihr zusammen, dass sie Witwe geworden ist. Wir sind an ihrer Seite, als sie ihren zweiten Ehemann kennen- und lieben lernt. Und wir erleben, wie aus Rebecca als Kind eine starke Frau wird, die sich ihrer Stärke nicht bewusst ist, immer wieder zweifelt und sich doch durchbeißt. Wir erleben, wie sie ihre Stieftochter kennenlernt und sich ihrer annimmt, auch wenn sie sich dadurch Feinde macht.

Meiner Meinung nach ist Elizabeth Graver ein wirklich starker Roman gelungen. Sie zeigt anhand ihrer eigenen Großmutter, was Frauen zu leisten hatten, wenn die Männer schwach oder im Krieg waren. Aufgrund der persönlichen Beziehung der Autorin zu den Protagonisten und durch die Fotos, die jedem Kapitel voran gestellt und auf die in den Kapiteln jeweils Bezug genommen wird, bekommt auch der Leser einen Eindruck von Rebecca und ihrer Familie. Das macht das Lesevergnügen gleich doppelt intensiv.

Dieser Roman bekommt von mir eine klare Leseempfehlung.

Achja, eines noch: Ist Dir aufgefallen, dass der Name der Übersetzerin auf dem Cover steht? Finde ich großartig!

Deine

Kaiser, Menachem – Kajzer

Informationen zum Buch:
erschienen am 23. September 2023
Paul Zsolnay Verlag
332 Seiten
ISBN 978-3552073395
übersetzt von Brigitte Hilzensauer

Klappentext / Zusammenfassung:
Die Geschichte seiner eigenen Familie hatte Menachem Kaiser nicht sonderlich interessiert, ehe er nach Polen aufbrach. Dort besaßen seine Vorfahren einst ein Mietshaus, das von den Nazis enteignet wurde …

Meine Meinung:
Liebe Leserin, lieber Leser,

Menachem Kaiser nimmt uns mit auf seine ganz persönliche Odyssee. Seinen Großvater hat er nie kennengelernt und es wurde auch nie viel über ihn gesprochen. Es war in der Familie eigentlich nur bekannt, dass Kaiser sen. als einziger seiner Familie den Holocaust überlebt und von Polen nach Kanada geflohen ist.

Als Menachem beruflich nach Polen musste, kam der Stein ins Rollen. Er fragte seinen Vater, wo sein Großvater eigentlich gelebt hatte und bekam eine Adresse. Menachem fährt hin, in der wagen Hoffnung, eine Verbindung zu seinen Wurzeln aufbauen zu können. Und bei diesem Bestreben wühlt er sich durch ein Dickicht aus Vorschiften, Gesetzen, Missverständnissen, Sprachproblemen (er spricht kein Polnisch, seine Gesprächspartner nicht immer Englisch), immer in der Hoffnung, das Mietshaus seiner Großeltern zurückfordern zu können.

Während dieses jahrelangen, zermürbenden Kampfes lernt Menachem Menschen ganz unterschiedlicher Couleur kennen: Da sind ehemalige Theaterangestellte, aktive Schatzsucher und Forscher, Dolmetscher, Anwälte, Richter … und ein verschollener Verwandter, dessen Nachkommen und seine Geschichte. Und Menachem stellt sich zunehmend die Frage: Warum mache ich das eigentlich?

Während ich dieses Buch las, stellte auch mir die Frage: Ob ich das auch mache? Die Geschichte meiner Familie erforschen? Von meines Vaters Vaters Familie gibt es einen Stammbaum, der mehrere hundert Jahre zurückreicht, dafür hatte einer seiner Cousins vor zig Jahren gesorgt. Doch Familie ist doch noch größer. Da wäre noch der Stammbaum von Papas Mutter sowie die von den Eltern meiner Mutter. Interessant wäre es sicherlich, mal zu gucken, wer so alles noch dazu gehört und wen man noch aufstöbern könnte und welche Geschichten man aufdecken könnte. Doch dann frage ich mich gleichzeitig: Will ich das wirklich wissen? Was bringt es mir? Und was würde es den Menschen bringen, die vielleicht ganz entfernt zur Familie gehören, aber nichts davon wissen? Wollen sie es wissen?

Du siehst, dieses Buch regt zum Nachdenken an.

Deine